Interview zu Taliban-Machtübernahme: "Humanitärer Hilfebedarf sehr groß"
Die Taliban sind auf dem Vormarsch und haben in der afghanischen Hauptstadt Kabul die Macht übernommen. Wie geht es den Menschen vor Ort?
STEFAN RECKER: Den Menschen geht es schlecht. Neben der strukturellen Armut in Afghanistan, die schon seit Jahrzehnten herrscht, kam dieses Jahr eine schwere Dürre hinzu. Und nun auch noch der Vormarsch der Taliban, der in seiner Wucht hier alle überrascht hat. Die Menschen fliehen, weil sie große Angst haben. In Kabul sind in den vergangenen Tagen und Wochen mehrere zehntausend Menschen angekommen, die unter freiem Himmel auf Straßen und in Parks übernachten müssen.
Kann die Caritas in einer solch unsicheren und angespannten Lage überhaupt Hilfe leisten?
RECKER: Der humanitäre Hilfsbedarf ist weiterhin sehr groß. Aufgrund der dynamischen und unübersichtlichen Lage kann sich die Situation von Tag zu Tag ändern. Wir setzen uns mit aller Kraft dafür ein, über unsere langjährigen lokalen Mitarbeitenden weiterhin Hilfe leisten zu können.
Wie erklären Sie sich das schnelle Vorrücken der Taliban?
RECKER: Der Vormarsch ist weniger der Stärke der Taliban geschuldet als vielmehr der Schwäche der Regierung und ihrer Truppen. Sie wurden vom Abzug der internationalen Streitkräfte völlig überrascht und hatten selbst keine Vorkehrungen getroffen. Es gab viel Streit innerhalb der Regierung, vieles lief unkoordiniert.
Was bereitet Ihnen aktuell die größten Sorgen?
RECKER: Ich mache mir tatsächlich weniger Sorgen um die Übernahme der Regierungsgewalt durch die Taliban, sondern eher darüber, dass es in der Übergangsphase zu Plünderungen kommt und alte Rechnungen beglichen werden. Auch die Situation meiner afghanischen Kolleginnen und Kollegen beschäftigt mich sehr. Als wir erfuhren, dass die Taliban sogar über die Stadtgrenzen Kabuls vorgerückt sind, haben wir erst einmal alle Kolleginnen und Kollegen nach Hause geschickt. Die meisten haben lange Anfahrtswege ins Büro, bis zu eineinhalb Stunden einfacher Fahrtweg bei guter Verkehrslage. Die ist momentan nicht gegeben, und wir möchten nichts riskieren.
Wie sehen Sie die Zukunft der Caritas-Arbeit im Land?
RECKER: Afghanistan hat in den vergangenen 45 Jahren verschiedenste Regierungsformen erlebt, die Menschen sind mittlerweile desillusioniert. Sie haben schlichtweg Angst, wie es weitergeht. Wir als Caritas werden unsere Arbeit hier, so gut es irgend möglich ist, fortsetzen. Auch eine Taliban-Regierung wird internationale Hilfsorganisationen brauchen, damit es zumindest für einen Bruchteil der Menschen eine soziale Fürsorge gibt.
(In manchen Gebieten Afghanistans gehen die zahlreichen Hilfsprojekte von Caritas international weiter. In anderen Orten müssen die Projektaktivitäten eingeschränkt werden, um die Sicherheit der lokalen Mitarbeitenden zu gewährleisten. Wir arbeiten unter Hochdruck daran, die Hilfen schnellstmöglich fortzuführen. Anm. d. Redaktion, 30.08.2021)
Seit 2014 leitet Stefan Recker das Büro von Caritas international in Kabul. Erst im Juli war er „auf Heimatbesuch“ in Deutschland. Damals war es kaum vorstellbar, dass die Taliban schon wenige Wochen später in Kabul stehen werden. Bei einem Hintergrund-Gespräch erzählte er, was ihn motiviert, für die Caritas in Afghanistan zu arbeiten.