
GroKo, Obergrenze und Familiennachzug - Worum geht's genau?
„Eine Obergrenze wird es mit uns nicht geben!“, rief Martin Schulz am Sonderparteitag ins Mikro. Er beteuerte wie Katarina Barley, dass man nicht der Gegenseite glauben solle und eine Obergrenze nicht im Koalitionspapier stehen würde – obwohl im Sondierungspapier von einer Beschränkung des Zuzugs jährlich die Rede ist. Das Wort Obergrenze fällt nicht explizit – doch wie soll eine Begrenzung des Zuzugs sonst verstanden werden? Es handelt sich um Wortklauberei und Verpackungskünste wie schon beim „atmenden Rahmen“, den die Grünen bei Jamaica ausgehandelt hatten. Obergrenze mit Schleife.
Welche Rolle München beim Sondierungspapier spielt
Die Flüchtlinge, Ehrenamtlichen aber auch die Menschenrechtler der SPD sind enttäuscht. Ob das allerdings der Kurs der nächsten vier Jahre mit einer Großen Koalition wird, entscheiden erstmal noch die SPD-Mitglieder beim Mitgliederentscheid. Am 5. Februar sollen die Koalitionsverhandlungen beendet sein. Das Mitgliedervotum soll so schnell wie möglich durchgeführt werden, damit eine Regierung einer Großen Koalition vor Ostern steht. Am Sonderparteitag war zumindest ersichtlich, dass die Deligierten und die Stimmung der Münchner pro Flüchtlinge und gegen die GroKo sind. Wenige Tage vor dem Parteitag hatten drei Münchner SPD-Mitglieder, die ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagiert sind, einen offenen Brief verfasst, in dem sie diverse Punkte zum Themenblock Asyl und Flucht kritisierten. Die Deligierten aus München solidarisierten sich weitestgehend mit den Briefschreiberinnen. Doch das blieb nicht folgenlos – nach einem offenen Statement des Münchner Bundestagsabgeordneten Florian Post blieb eine der kritischen Deligierten doch lieber zuhause. Ebenfalls Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Münchner SPD, Claudia Tausend, echauffierte sich, dass die Deligierten aus München, die die GroKo ablehen, nicht die gesamte Münchner SPD verkörpern würden – und dass die Flüchtlingsfrage nicht entscheidend sein könne für die Koalition. Da war es sicherlich hilfreich, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Helferkreise, die sich zufälligerweise parallel zum Sonderparteitag in München zum Asylgipfel Oberbayern trafen, eine Fotobotschaft an die Deligierten nach Bonn sandten; auf dem Gruppenfoto war zu lesen: „Menschenrechte wählen!“ Der Parteitag entschied sich trotz des Schwindels zur Obergrenze auf die Sondierungen Koalitionsgespräche folgen zu lassen.
Jetzt ist also noch Zeit um auf SPD-Mitglieder einzuwirken. Beim Mitgliederentscheid sind sie die entscheidene Kraft. Aber ob das helfen würde – Ehrenamtliche und Flüchtlinge glauben nicht recht daran.
Obergrenze? Familiennachzug!
Empörender noch, als dass eine menschenrechtswidrige Obergrenze eingeführt werden soll, ist jedoch der Fakt, dass sie offensichtlich auch niemanden interessiert. Vielmehr beschäftigt die Menschen das ebenso wichtige Thema des Familiennachzug. Dies hat sicherlich zwei Gründe: zum einen wollen die Frauen in der SPD nicht hinnehmen, dass die Frauen und Kinder von subsidiär Schutzberechtigten im Stich gelassen werden. Zum anderen mobilisiert der christlich-kirchliche Flügel der CSU und CDU massiv innerhalb der Partei zu diesem Thema. Ist das Verhältnis von CSU und christlichen Kirchen inzwischen so erschüttert wie, laut Angaben von Alt-CSUlern und Politikwissenschaftlern, noch nie, appelliert der sehr gläubige Anteil der Funktionäre und Mitglieder an die aktuelle Parteiführung, dass „Familie“ und „christliche Nächstenliebe“ zentrale Werte der Partei seien. Das Aussetzen des Familiennachzugs stünde den christlichen Wurzeln der Partei diametral entgegen. Dabei melden sich so prominente Geister der Vergangenheit wie beispielsweise Hans Maier, Kultusminster a.D., wieder um sich gegen Dobrindt, Scheuer und Söder aufzulehnen. Während Dobrindt in den Tagen der Sondierungsentscheidungen durch Provokationen von sich Reden machte und deshalb alliterative Erwähnung in der Rede von Andrea Nahles fand, verkündete Markus Söder in Bayern eine Behörde für Asyl und Abschiebung etablieren zu wollen. Von Integration ist keine Rede mehr und laut seinem Interview im BR kann ein Familiennachzug auch nicht im Interesse der Bevölkerung sein. Der Landtagswahlkampf in Bayern hat längst begonnen und verfälscht damit die Dynamik auf Bundesebene – ohne Zweifel.
Worum gehts eigentlich?
Doch worum geht es beim Familiennachzugthema genau? Aktuell ist der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt bis Ende März. Laut Sondierungspapier soll dies so bleiben bis Ende Juli; dann sollen monatlich bis zu 1000 Personen nachziehen. Subsidiär Schutzberechtigte sind Menschen, die anerkannt in ihrer Heimat Folter, Todesstrafe oder lebensbedrohliche Situationen, zum Beispiel durch Krieg, zu befürchten haben. Viele Syrer haben in Deutschland den Status von subsidiär Schutzberechtigten. Den Kritikern und der SPD sind 1000 Personen zu wenig. Es müsse eine „Härtefallregelung“ her, hat Martin Schulz am Parteitag versprochen. Ein spannender Begriff, doch andererseits eine leere Hülse. Am 30. Jaunar haben sich CDU, CSU und SPD auf einen Kompromiss geeinigt, nachdem die Koalitionsverhandlungen drohten an diesem Punkt zu scheitern. Laut Söder könne es nicht im Interesse der Bevölkerung sein, dass Menschen, die in zwei oder drei Jahren ohnehin in ein befriedetes Land zurückkehren sollen, jetzt ihre gesamten Familien nachholten, um dann vielleicht doch nicht zurückgehen zu wollen. Dabei zeigen Umfragen eindeutig – während den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen viele Menschen in Deutschland kritisch gegenüber stehen, wollen die Menschen in Deutschland sehr wohl, dass Syrer und ihre Familien in Deutschland ein Aufenthaltsrecht haben. Der Volksmund spricht dabei sehr unfachmännisch davon, dass „Kriegsflüchtlinge“ echtes „Asyl“ verdient haben. Asyl nach dem Grundgesetz ist allerdings kein Status, der Kriegsflüchtlingen zuerkannt wird. Und da liegt die Krux – würde man jemanden auf der Straße fragen, wer subsidiär Schutzberechtigter sei, vermuteten die meisten nicht die tatsächliche Personengruppe, sondern würden eine Beschreibung bringen, die eher in Richtung Duldung laufen würde. Es wäre Aufgabe der Politik hier den Transfer zu bieten und der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass subsidiär Schutzberechtigte das sind was die Menschen im allgemeinen Sprachgebrauch unter „Kriegsflüchtlinge“ zusammenfassen würden. Dann könnte in der Bevölkerung das Thema nicht so sehr polarisieren und die Akzeptanz für den Familiennachzug wäre größer. Die CSU-Spitzenpolitiker und -verhandler befeuern hingegen Ressentiments und Ängste des rechten Randes. Und so ist nicht verwunderlich, dass das Kompromissergebnis „kleinlich“ ist, wie es die Süddeutsche Zeitung trefflich zusammenfasst. Zusätzlich zu den monatlichen 1000 Personen soll eine Härtefallregelung greifen – die jedoch bereits jetzt Gültigkeit hat. Das „neue“ Ergebnis ist also – es bleibt weitestgehend alles beim Alten. 1000 Familienmitglieder pro Monat können nach Deutschland nachkommen. Wie viele Menschen auf Familiennachzug warten ist jedoch noch nicht einmal bekannt. Die Schätzungen liegen zwischen 70.000 und 180.000 Wartenden – das heißt der Familiennachzug kann sich zwischen 6 und 13 Jahren hinziehen. Führt man sich diese Zahlen vor Auge wird die Kosmetik schnell deutlich. Und das, obwohl der Familiennachzug in diesen Dimensionen, keinerlei Auswirkungen auf die Zukunft Deutschlands haben – wo doch Schulen, Pflege, Rente und Breitbandausbau bei weitem größere und wichtigere Themen wären.
Hurra Härtefälle - Äh, was genau sind Härtefälle?
Immerhin fiel am Rande der Sondierungsgespräche in Deutschland ein wichtiges Urteil zum Familiennachzug:
In Syrien ist Polygamie erlaubt, doch in Deutschland verboten. Ein Fall aus Pinneberg gilt wegen des Kindeswohls nun als Härtefall. Mit vier Kindern und seiner Ehefrau reiste ein Syrer 2015 nach Deutschland ein. Später durfte er auch seine zweite Frau nachholen. "Ich bin grundsätzlich skeptisch, was den Nachzug von Zweit- oder gar Drittfrauen betrifft", sagte Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), der "Rheinischen Post". Das schließe aber nicht völlig aus, dass man im Einzelfall im Sinne des Kindeswohls "auch anders entscheiden" könne. Die Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Eva Högl, stimmte dem zu. "Im deutschen Aufenthaltsgesetz ist ein Nachzug von Zweitehegatten einer polygamen Ehe ausdrücklich ausgeschlossen", sagte sie. In Einzelfällen könne jedoch der Nachzug dann erlaubt werden, wenn dieser zur Vermeidung einer "außergewöhnlichen Härte" erforderlich sei. "Das kann unter Umständen der Fall sein, wenn Kinder ohne ihre leibliche Mutter in Deutschland aufwachsen müssen."
Damit ist zumindest deutlich, wann bei polygamen ein Härtefall greift. Insbesondere CDU und FDP ist wichtig, dass Polygamie nicht geduldet wird. Allerdings ist gar nicht klar was künftig Härtefälle genau bedeuten werden. Entscheidungen im Sinne des Kindeswohl werden gewiss nicht mehr revidiert. Doch andere Fragestellungen? Christian Lindner beschrieb in einem TV-Interview, dass beispielsweise ein Härtefall vorliegen könne, wenn der anwesende Mann in Deutschland arbeite und in einem Umfang erwerbsfähig ist, dass der Unterhalt für die gesamte Familie gewährleistet wird. Was ist aber an einer Familie, die eine eigene Wohnung hat und sich selbst versorgt, eigentlich genau ein Härtefall? Soll "Härtefall" also künftig bedeuten, Menschen, denen wir wünsche erfüllen, weil sie keine Sozialhilfe beziehen und dem Steuerzahler also nicht "auf der tasche liegen". Diese Umdeutung des Begriffs mutet doch sehr eigentümlich an.
Was steht da eigentlich noch im Sondierungs- und Koalitionspapier?
Zu einigen anderen wichtigen Fragestellungen ist noch nicht öffentlich bekannt, wie die Koalitionsverhandlungen gelaufne sind. Großes Ärgernis im Sondierungspapier für Bayerns Flüchtlingshelferinnen und -helfer sowie dem Flüchtlingsrat sind die sogenannten ANkER, zentrale Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen. Ehrenamtliche in Bayern haben sofort internierungsartige Lager wie Manching als flächendeckendes Konzept für Deutschland im Sinn. Es ist eindeutig, dass hier die CSU verscuht das Ingolstädter Beispiel bundesweit durchzusetzen. Die Kritiker stößt allerdings außerhalb Bayerns auf Granit; mangels anderer Kenntnis, gehen Politikerinnen und Politiker sowie Flüchtlingshelferinnen und -helfer von einer romantisierten Bayernkaserne aus und sind begeistert über den Eintrag – wer das Chaos am LaGeSo erlebt hat, sei sein Wunsch nach gebündelter und menschenwürdiger Betreuung und Verfahrensabwicklung nachgesehen. Weiterhin kaum Beachtung in der Öffentlichkeit finden aber auch die Pläne im Sondierungspapier den Status der sicheren Herkunftsländer auf Nordafrika auszuweiten. Voraussetzung, damit ein Land ein sicheres Herkunftsland werden kann, war bisher eine Anerkennungsquote von Asyl und subsidiär Schutzberechtigter unter 5%. Die Anerkennungsquoten liegen bei Marokko und Algerien seitens des BAMF allerdings aktuell bei etwa 10%. Auch über die noch stärkere Reduktion auf Sachleistungen und damit die Kürzung des soziokulturellen Existenzminimums von Asylbewerbern spricht nach wie vor niemand.
Wir werden am 5. Februar erfahren, ob hier noch nachgebessert wurde. Vermutlich nicht. Die Mitglieder der SPD können diesen Fahrplan für die nächsten vier Jahre noch kippen. Doch was dann? Eine Minderheitsregierung ist für Merkel und Seehofer ausgeschlossen. Ein Scheitern der GroKo-Verhandlungen ziehen sehr sicher Neuwahlen nach sich. Dass der Wahlkampf dann humaner verläuft ist nicht zu erwarten. Und gleichzeitig wird die CSU fortfahren auf Kosten der Flüchtlinge einen Wahlkampf zu machen, der von entscheidenden Themen wie dem sozialen Wohnungsbau ablenken soll.