"Fair enough?" Ein Interview mit Benjamin Schraven zum Thema Flucht und Klima

Der Klimawandel treibt immer mehr Menschen in die Flucht, aber ist jetzt wirklich nötig gleich in einen übertriebenen Alarmismus zu fallen? Dr. Benjamin Schraven, den Sie vielleicht schon der Veranstaltungsreiche "Zu Gast auf dem Surfing Sofa" kennen, geht in seinem Interview mit der "Neue Zürcher Zeitung" auf das Thema ein. 

In diesem Jahr steht die Veranstaltungsserie Klimaherbst in Fokus von Klimagerechtigkeit. Unter "Fair enough" haben die Netzwerkpartner*innen vom AK Flucht und Klima informative Veranstaltungen aufgesetzt. Mehr erfahren sie hier: Veranstaltungen Flucht und Klima

Klimaflucht ist real- Dankeschön an Foto von Pixabay: https://www.pexels.com/de-de/foto/foto-von-brown-bare-tree-auf-brown-surface-wahrend-des-tages-60013/

 

NZZ: Herr Schraven, Sie forschen seit Jahren zu Migration. Manche Hilfsorganisationen warnen davor, dass es durch den Klimawandel Millionen Flüchtlinge geben könnte, Vertreter der sogenannten Letzten Generation sprechen sogar von 3,5 Milliarden. Was halten Sie von solchen Zahlen? 

B. Schraven: Ich sehe diesen alarmistischen Überbietungswettbewerb kritisch. Der Tenor unter Wissenschaftlern, die sich mit den Zusammenhängen von Klima und Migration befassen, ist seit längerem: Bitte hört auf mit diesen Szenarien. Sie sind einfach nicht realistisch

NZZ: Warum nicht? 

B. Schraven: Gerade die Vorstellung, dass wir es in Europa schon bald mit einer gigantischen Welle von Klimaflüchtlingen aus Afrika oder Teilen Asiens zu tun hätten, geht an der Realität vorbei. Vieles spricht dafür, dass der Klimawandel die Migrationsbewegungen auf ganz andere Weise beeinflussen wird. Vom Klimawandel werden vor allem ärmere Bevölkerungsgruppen in den Ländern des globalen Südens betroffen sein. Und diese Leute haben gar nicht die Ressourcen, um über größere Distanzen von Afrika aus Richtung Europa aufzubrechen.

NZZ: Worauf müssen wir uns stattdessen einstellen? 

B. Schraven: Was voraussichtlich zunehmen wird, ist die saisonale Migration in Afrika und Asien. Das bedeutet, dass Menschen nicht mit ihrer ganzen Familie permanent woandershin gehen, sondern sich aus den Dörfern in Richtung der Städte oder auch der Zentren der kommerziellen Landwirtschaft aufmachen, um dort für eine gewisse Zeit zu arbeiten. Nicht zuletzt, um Schäden und Verluste zu kompensieren, die bei ihnen daheim auf den Feldern durch Starkregen oder Dürre entstanden sind. Der Trend der Urbanisierung ist ohnehin ungebrochen, auch aufgrund von natürlichem Bevölkerungswachstum in den Städten.

NZZ: Die steigenden Meeresspiegel werden ebenfalls häufig als Grund für Migration angeführt. 

B. Schraven: Auch hier sollte man nicht der irrigen Vorstellung folgen, dass sehr schnell ganze Küstenstreifen verschwinden werden. Vielmehr wird es zunehmend zu Fluten oder einer Versalzung des Grundwassers in Küstennähe kommen, was nach und nach den Druck auf die dort lebenden Menschen erhöhen wird, sich anzupassen. In solchen Situationen ist die Migration ein Weg der Anpassung. Aber auch das wird vorwiegend innerhalb der Regionen und der betroffenen Länder stattfinden, wie es heute auch schon der Fall ist.  

NZZ: Wie bewerten Sie die Warnungen vor politischen Konflikten und Kriegen, die durch den Klimawandel entstehen und zur Flucht zwingen könnten? 

B. Schraven: In diesem Zusammenhang wird oft ein Kampf um verknappte Ressourcen prognostiziert. Sicherlich kann man den Klimawandel als Multiplikator von Risiken und Konflikten bezeichnen. Aber auch hier würde ich die Finger von apokalyptischen Vorstellungen lassen. Ob knapper werdende Ressourcen Konflikte auslösen oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Es gibt hier keinen Automatismus. Genauso ist es bei der Migration: Sie wird nicht nur vom Klimawandel bestimmt, sondern auch von anderen Faktoren. 

NZZ: Gibt es verlässliche Schätzungen, wie viele Menschen durch den Klimawandel dazu gezwungen sein werden, ihre Heimat zu verlassen? 

B. Schraven:  Es gibt zumindest Schätzungen dazu, wie viele Menschen von Wetterextremen betroffen oder bedroht sind. Laut dem Weltklimarat IPCC könnten es über 3 Milliarden Menschen sein. Aber die allerwenigsten davon migrieren. Gerade denjenigen, die am schlimmsten vom Klimawandel betroffen sind, fehlen in der Regel die Ressourcen, um den Wohnort zu verlassen. Die Viehnomaden in Ostafrika sind dafür ein Beispiel: Normalerweise ziehen sie dem Gras hinterher. Wenn nun wegen einer Dürre ihre Rinder verenden, stranden auch die Nomaden. Die Migrationsforschung spricht hier von «erzwungener Immobilität». 

NZZ: Wie können diese Menschen auf die Wetterextreme reagieren? 

B. Schraven: Ihre Lage muss man sich als sehr prekär vorstellen. Wenn sie Glück haben, können sie an halbwegs sichere Orte ausweichen oder ihren landwirtschaftlichen Anbau anpassen. Diese besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen haben wir in Europa kaum auf dem Schirm: Die Horrorvorstellung von Klimaflüchtlingen, die sich auf den Weg zu uns machen, ist wirkmächtiger. Dabei sollten wir lieber über jene nachdenken, die nirgendwo hingehen können. 

NZZ: Die Migranten, die es bis Europa schaffen, hätten in ihren Heimatländern wahrscheinlich ausreichend finanzielle Ressourcen, um sich an Klimaveränderungen anzupassen? 

B. Schraven: Sagen wir es so: Diese Migranten sind gar nicht die Hauptbetroffenen des Klimawandels. Sie stammen nicht aus kleinbäuerlichen oder Fischerfamilien. Die Triebfedern bei ihnen sind eher politische Instabilität, Konflikte oder ihre wirtschaftliche Lage – auch wenn zum Beispiel im Fall Syriens von manchen Beobachtern versucht wurde, den Klimawandel zu einer der Fluchtursachen zu erklären. 

NZZ: Wie das? 

Eine Gruppe von Klimatologen fand heraus, dass eine schwerwiegende Dürre im landwirtschaftlich geprägten Osten Syriens durch den Klimawandel bedingt gewesen war. In deren Folge, zwischen den Jahren 2006 und 2010, verließen in Richtung der Städte. Die daraus resultierenden sozialen Spannungen in den Städten hätten dort die Proteste und damit den Krieg begünstigt, folgerten einige Medien. In dieser Analyse steckt eine fatale Vernachlässigung der historischen, sozialen, religiösen und kulturellen Hintergründe des Kriegs. Der Faktor Klimawandel mag eine Rolle gespielt haben, war aber sicherlich nicht die entscheidende Ursache. 

NZZ: Sprechen wir über Lösungen. Sie beschreiben Westafrika als eine Region mit hochmobiler Bevölkerung: Könnte Migration statt eines Problems ein Teil der Lösung sein? 

B. Schraven: Für viele Menschen schon. In Westafrika hat es Tradition, während der Trockenzeit aus den Savannengebieten in Richtung Küste zu ziehen und dort in den Städten oder der Landwirtschaft ein bisschen Geld zu verdienen. Das dort verdiente Geld und die mitgebrachten Lebensmittel helfen der gesamten Familien in der Heimat dabei, die Folgen des Klimawandels besser bewältigen zu können. 

NZZ: Braucht es eine internationale Konvention für Klimaflüchtlinge? 

B. Schraven: Manche im Westen plädieren dafür. Mir erscheint das unrealistisch. Das liegt unter anderem daran, dass sich kaum eindeutig definieren lässt, in welchem Fall eine Flucht durch das Klima verursacht wurde. Die Faktoren sind, wie bereits beschrieben, vielfältig. Ausserdem haben westliche Regierungen kein Interesse daran, völkerrechtlich bindende Standards zu schaffen. Darum wird eher auf regionaler Ebene nach Lösungen gesucht. 

NZZ: Wie sehen diese aus? 

B. Schraven: Internationale Initiativen wie die Platform on Disaster Displacement versuchen, zunächst den politischen Dialog und die Zusammenarbeit auf regionaler Ebene zu intensivieren und die Datenlage zur Klimamigration zu verbessern. In Ostafrika wird gerade ein Freizügigkeitsabkommen vorbereitet, das nicht zuletzt mit klimabezogener Mobilität begründet wird. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Migration auch viele Risiken birgt: Ausbeutung, harsche Lebensbedingungen, sexualisierte Gewalt. Migration kann die Situation der Familien also auch verschlechtern. 

NZZ: Welche anderen Lösungsansätze gibt es? 

B. Schraven: Solange Regionen nicht unerträglich heiss sind oder Küstengebiete nicht langfristig durch den Anstieg des Meeresspiegels verschwinden, lässt sich die Infrastruktur anpassen – etwa indem Kanäle und Rückhaltebecken gebaut oder Flüsse renaturiert werden, um die Flutgefahr zu minimieren. Dürrerisiken können mithilfe von Wasserspeichern oder dürreresistenten Pflanzen gesenkt werden. Auch die Städte sind Klima-Hotspots, in denen die Infrastruktur verbessert werden muss. 

NZZ: In der öffentlichen Debatte wird eher selten über Lösungsansätze gesprochen. Warum nimmt die Schwarzmalerei einen so großen Raum ein.

B. Schraven: Es mag eine gute Absicht dahinterstehen, Klimaflüchtlinge als Argument ins Feld zu führen, um für Klimaschutz zu werben. Aber am Ende bewirkt man eher das Gegenteil, weil man damit den Abschottungsdiskurs befeuert. Anstatt im Alarmismus zu verharren, sollten wir lieber diskutieren, welche Konsequenzen für Europa wirklich aus dem Klimawandel resultieren. Langfristig werden auch bei uns in bestimmten Regionen Menschen aufgrund von klimatischen Veränderungen umsiedeln müssen. Auch wir werden also eher von Binnenmigration betroffen sein und sollten uns schon heute darauf vorbereiten. 

 

Zur Person von Dr. Benjamin Schraven: 

Der promovierte Entwicklungsforscher Benjamin Schraven berät als Migrationsexperte unter anderem die Internationale Organisation für Migration (IOM). Daneben ist er Associate Fellow des German Institute of Development and Sustainability (Idos). Vor kurzem hat er das Buch «‹Klimamigration› – Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht» veröffentlicht.