Aktuelles aus München
Bild von der Demonstration von Gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie, Juli 2017

Deine Flucht aus München

Stell dir vor es ist Krieg – und zwar nicht in Afghanistan oder anderswo weit weg, sondern hier, bei uns zu Hause. Der Text bildet eine Analogie zur täglichen Realität Geflüchteter und uns. Ein satirischer Perspektivwechsel – auch wenn es gar Nichts zu Lachen gibt.

Stell Dir vor es herrscht Krieg in Deutschland. In Bayern kannst Du nicht mehr sicher von Wolfratshausen nach Rosenheim fahren, weil Dein Auto von einer terroristischen Gruppe angehalten werden könnte. Eine Kleinigkeit genügt und sie würden Dich brutal zusammenschlagen, verschleppen und Dir alles, was Du dabeihast, vermutlich auch das Auto, abknüpfen. Du hast Glück, wenn sie Dich nicht an Ort und Stelle exekutieren.

Stell Dir vor Du hast keine Arbeit mehr, weil die großen Unternehmen in München alle geplündert und zerstört worden sind. Du verkaufst alles was Du noch hast und gibst das Geld einem dubiosen Typen, der verspricht Dich über das Mittelmeer und die Türkei nach Afghanistan zu bringen. Die Greul, die auf dem Wasser passiert, kannst du Dir vorstellen – diese Bilder wirst Du nie mehr vergessen, dafür sorgen auch Deine Alpträume, die sich Nacht für Nacht wiederholen. Tatsächlich hast Du es geschafft und überlebt! Jetzt bist du in Kabul, Dein Ehepartner und Deine Kinder sind zu Hause in München. Du erfährst über Dein Smartphone vom Krieg in Deutschland, auch wenn im afghanischen Fernsehen und der Zeitung so gut wie nichts darüber berichtet wird. Du erfährst auch von der Angst deiner Familie, die vorgestern erst wieder in den Schutzbunker unter dem Hauptbahnhof evakuiert werden sollte. Ob sie es geschafft haben oder wie es ihnen heute geht, dazu hast Du noch keine Nachricht.

Leben in der Unterkunft

In Kabul lebst du mit 250 Franken, Sachsen aber auch Amerikanern und Chinesen in einer großen Halle oder teilst Dir mit einigen ein Zimmer. Immer weinen Kinder und Du kannst gar nicht anders, als an deine Kinder zu denken. Liebenswürdige Ehrenamtliche haben gehört, dass man in Deutschland Karneval feiert. Und nun ist vom 11.11. bis Ende März in Deiner Unterkunft Fasching angesagt.
Du bekommst zu hören, dass Du die muslimische Kultur zu achten und dich gefälligst anzupassen hast. Dass man nicht nur herumliegen darf, sondern auch arbeiten soll. Einige Afghanen denken, es gehe euch Flüchtlingen immer noch zu gut und ihr bekommt alles hinterhergeworfen.
Bei deiner Anhörung ist ein Dolmetscher dabei, der nur Schwyzerdütsch spricht. Im Protokoll steht drin, dass Du Dir vermutlich das Meiste ausgedacht haben musst, zudem prüfe man noch, ob du in Syrien Fingerabdrücke abgegeben hast.

Nach einigen Monaten in der Unterkunft hast du Einheimische kennengelernt, die Dir helfen, die Sprache zu lernen. Manchmal habt ihr Streit, weil sie dir vorwerfen, dass Du Dich nicht (genug?) anstrengst und deine Fortschritte in Farsi doch wirklich schon besser sein müssten. Trotzdem helfen Dir Deine neuen Freunde viel und durch ihre unermüdlichen Bemühungen bietet Dir ein lokales Unternehmen eine Stelle mit Ausbildung an, aber die afghanische Ausländerbehörde verbietet dir zu arbeiten. Sie sagen deine Bleibeperspektive wäre unsicher und man könne derzeit nichts entscheiden, da Du nicht genügend getan hast, um Deine Papiere zu besorgen. All Deine Versuche jemand im KVR in München zu erreichen scheitern. Der Brief mit Deinem Antrag auf Deine Geburtsurkunde kommt nach drei Monaten als unzustellbar zurück – eine Poccistraße gibt es nicht (mehr). Du beantragst einen Familiennachzug, doch die Beamtin sagt subsidiär Schutzberechtigten stehe keine Familienzusammenführung zu. Sie bietet Dir stattdessen an, dass wenn Du freiwillig nach München zurückgehst, man Dir ein Auto schenken würde. (Ein Auto, das Dir nach wenigen Kilometern bewaffnete Männer abnehmen würden, wenn sie Dich überhaupt am Leben lassen.)

Abschiebung nach Deutschland

Stell Dir vor eines Nachts oder in deinen Sprachkurs kommt die Polizei und führt dich in Handschellen ab, zum Flughafen. Sie fliegen Dich aus Kabul zurück nach München, wo am Tag zuvor 90 Menschen bei einem Bombenanschlag am Viktualienmarkt getötet worden sind. Ein etwas dünn besetztes Empfangskomitee des afghanischen Konsulats empfängt Dich am Flughafen Franz Josef Strauß und wünscht Dir viel Glück. Deutschland ist nämlich sicher. Am nördlichsten Ende von Brandenburg und in einigen abgelegenen Orten der Mecklenburgischen Seenplatte, so hat man gehört, ist es sicher. Das haben die Sicherheitsbewertungen der afghanischen Politik eindeutig festgestellt! Dort kannst Du mit Deiner Familie eine Wohnung beziehen und dir ja wieder eine neue Existenz aufbauen. Arbeitsplätze gibt es dort wohl nicht so viele, aber deine neugewonnenen Kenntnisse in Farsi und Deine eben begonnene Ausbildung werden Dir gewiss hilfreich sein.

Frei nach der Rede von Marina Lessig auf der Demonstration von Bellevue di Monaco als Reaktion auf die gewaltsame Eskalation der Polizei auf Schülerproteste gegen die Abschiebung eines afghanischen Mitschülers in Nürnberg, Sommer 2017

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Autor*In:
Triz Heider